Die V22-24 würde ich dem gestrigen Text zuordnen, einerseits weil sie das Bild des Pfropfens weiter vertiefen, andererseits weil V25 mit der Wendung “Denn …” eine Folgerung und damit auch einen neuen Abschnitt einleiten.
“Denn ich will euch, Brüder und Schwestern, nicht in Unkenntnis über dieses Geheimnis lassen …” (V25a)
Wörtlich heisst es hier: “Denn ich will nicht, dass ihr nicht wisst …”
Diese Wendung hat man schnell überlesen um sich dem eigentlichen Inhalt zuzuwenden. Doch lasst uns hier verweilen. Paulus will nicht, dass die Gemeindemitglieder in Rom etwas nicht wissen. Bereits in 10,2 führte Paulus aus, welche verheerenden Auswirkungen ein Mangel an richtiger Erkenntnis haben kann. Dort ging es um Christus, hier folgt ein Einblick in ein Geheimnis des Glaubens – oder schlicht Detailwissen.
Doch er will nicht, dass sie das nicht wissen. Nochmals: Paulus schreibt hier nicht für die Theologen seiner Zeit, sondern an Christen wie dich und mich. Oft höre ich, dass wir in unseren Breitengraden nicht einen Mangel an Wissen hätten. Denn jedem Christ stehen sämtliche verfügbaren Bibelüberstzungen und -kommentare rund um die Uhr zur Verfügung. Dazu jede Menge Literatur, Blogs, Videos und Predigten. Es gehe deshalb vielmehr darum, das zu tun, was man wisse.
Dieser Argumentation kann ich gut folgen, dass es nicht ums Wissen, sondern ums Tun geht. Jesus spricht davon in Mt 7,24ff. Ohne Wissen kann es aber nie zum Tun kommen.
Haben wir also mehr als genug Wissen oder im Gegenteil einen Mangel an Wissen? Wenn ich dazu eine Einschätzung aus meinem Alltag geben darf, so ist meine leidliche Erfahrung, dass wir einen massiven Überfluss an unvernetztem Halb- und Teilwissen haben, welches nicht in der Bibel gründet, sondern auf Aussagen udn Annahmen anderer. Dieses Wissen gleicht einem Flickenteppich, der nicht taugt, wenn der Gläubige in eine Krise gerät oder nur schon eine Durststrecke durchmacht. Dieses Wissen ist auch nicht wirklich anwendbar, so dass ich befürchte, dass die Forderung ‘endlich das tun, was man weiss’ ins Leere greift, weil dies bereits der Fall ist: Christen tun, was sie wissen.
Werner de Boor schreibt hierzu in seinem Kommentar zum Römerbrief (1994, S. 267): “Wie wenig “wissen” unsere Gemeinden! Die meisten “Christen” sind erschreckend unwissend und urteilslos und kennen nicht einmal die Grundzüge der biblischen Wahrheit. Wer ahnt z.B. in den Gemeinden etwas von Rö 9-11?”
Man möchte antworten: Lieber Werner, Röm 9-11 ist doch Spezialwissen für Streber! Doch wie bereits ausgeführt, sah Paulus dies ganz anders – und die Gemeinden seiner Zeit offensichtlich auch.
Ich will aber nicht mit einer kritischen Bemerkung schliessen, sondern mit V32 einen Ausblick machen, zu welcher Erkenntnis es führen kann, wenn man als Christ nicht unwissend ist:
“Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen.“
Mehr Erkenntnis führt zu mehr Barmherzigkeit.
AUGUST 2020/VON MARCEL BERNHARDSGRÜTTER
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