Ich tue nicht das Gute, das ich tun will, sondern das Böse, das ich nicht will.” (V19)

Wenn wir den Römerbrief bis hierhin als Anfahrt verstehen, dann sind stehen wir nun vor dem Eingangstor und damit vor der alles entscheidenden Frage für das Verständnis dieses Briefes: Wen meint Paulus mit dem “Ich” in diesem Kapitel?

Erlaube mir den Hinweis, dass der heutige B!G Bite aus diesem Grund sehr ausführlich geraten ist, denn dieser Text ist absolut grundlegend für unseren Glauben.

Zur Auswahl stehen mehrere Möglichkeiten, welche wir genauer prüfen müssen:

  1. Ein Heide
    -> dieser würde dem Gesetz Gottes nicht freudig zustimmen (V22) und – deutlich ausgedrückt – in ihm wohnt nicht nur in seinem Fleisch nichts Gutes (V18)
  2. Ein Mensch (Israelit) unter dem Gesetz
    -> das erscheint auf den ersten Blick möglich, wobei wir im AT nur bei David solche Gedanken (ansatzweise) erkennen. Spätestens mit V25 fällt diese Möglichkeit weg.
  3. Ein Christ
    -> das ist nicht nur die einzig verbleibende Antwort, sondern auch die zutreffende.

Damit folgt auch gleich die nächste Frage: Ist dieses “Ich” sogenannt figurativ, also eine beispielhafte Rede für Christen allgemein, oder meint Paulus dieses “Ich” ganz persönlich? Hier zumindest meine Antwort: Es ist beides: Paulus spricht von sich selbst und führt gleichzeitig die Leser in die Ich-Form. Nicht die anderen, sondern ich.

Das war den Theologen aber noch nicht Antwort genug, so dass die spitzfindigen unter ihnen weitere drei Möglichkeiten fanden:

  1. Paulus vor seiner Bekehrung
  2. Paulus als unreifer Christ oder in einer Phase der Schwäche
  3. Paulus, Apostel Jesu Christi in Höchstform

An dieser Stelle möchte ich einen entscheidenden Hinweis einfügen. Wahrscheinlich bist du dir dessen gar nicht bewusst, aber deine Antwort auf diese Auswahl entscheidet über deine persönliche Theologie – also darüber, wie du Gott, Sünde, Erlösung, Christsein, Gemeinde, Taufe, Abendmahl und alles andere verstehst oder eben auch nicht verstehst.


Wenn sich das “Ich” auf Paulus vor seiner Bekehrung oder in einem Zustand der Schwäche bezieht, dann würden wir glauben, dass sich dieser innere Widerstreit wie er hier geschildert wird zwischen Fleisch und Wollen sich in völlige Harmonie auflösen würde, wenn wir eines Tages voll durchgeheiligt wären. In solch einem Verständnis wird entweder alles von alleine gut, wenn man Christ wird (kommt dir das bekannt vor?) oder man braucht nur die richtigen Techniken und Disziplin, um ein ‘Leben im Sieg’ zu führen (das kommt mir bekannt vor …). Das tönt nett, ist aber blosse Religion.

Hier kommt der Skandal des Kreuzes (1 Kor 1,23): Nicht das Gesetz ist gestorben, sondern wir sind dem Gesetz gestorben. Das Gesetz erfüllt weiterhin seine Pflicht – auch in deinem und meinem Leben – dass es Sünde anzeigt. Deshalb sind wir – ganz egal wie lange wir schon gläubig sind “der Natur nach dem Gesetz der Sünde versklavt” (V25). Und folglich keine/r von uns jemals ohne Sünde (1 Joh 1,10).
Aber: Die Sünde (die ich tue!) wird mir nicht mehr angerechnet (Röm 5,13) weil ICH durch Christus dem Gesetz gestorben bin! Deshalb bin ich frei! Deshalb keine Verdammnis mehr – weder in meinem Kopf noch im Jüngsten Gericht! 

Das Gesetz kann und darf gar nicht abgeschafft werden, weil es eine Funktion erfüllt, welche durch nichts anderes erfüllt werden kann: Sündenerkenntnis!

  • Im hellen Licht des heiligen, geistlichen Gesetzes, erscheint auch der Christ in seiner fleischlichen Beschaffenheit.
  • Die Sünde ist im Leben eines Christen immer noch am Werk in Form des Begehrens. Aber sie herrscht nicht mehr über ihn.
  • Gemessen am Gesetz können mein Denken, Reden und Handeln nicht genügen.
    In der Perspektive des Gesetzes bin ich also noch immer Sünder und werde es immer seinAber: Mein Handeln wird nicht mehr am Massstab des Gesetzes gemessen, sondern an der Gnade.

Selbst bei ‘durchgeheiligten’ Menschen wie Paulus bleibt am Ende des Tages die Feststellung, dass es eine Spannung gibt zwischen dem, was er wollte und dem, was er erreichte. Diese Spannung wird über die Jahre der Jesus-Nachfolge von aussen gesehen immer kleiner. Aber für mich selbst erkenne ich immer tiefer, wie durch und durch sündhaft ich bin und wie sehr ich deshalb Jesus brauche –  und wie unendlich gross Sein Werk und Seine Gnade sind.

Dort, wo diese Spannung nicht (mehr) wahrgenommen und nicht ans Kreuz gebracht wird, entsteht Betrübung des Geistes und fehlt die Freude! Denn dort wird auch die Vergebung nicht mehr wahrgenommen! Der Heilige Geist wird in einem solchen Leben andauernd betrübt. Da findet keine Leitung durch den Heiligen Geist statt, sondern nur der Versuch, in sich aus seelischer Kraft ein geistliches Leben zu erwirken.

Wenn wir das alles nicht erfassen, stehen wir in einer Gefahr der Verflachung des Sünden-. und damit des Gnadenbegriffes. Wer nicht (mehr) bereit ist, Sünde in seinem Leben zu erkennen und benennen obwohl diese ihre Macht über uns verloren hat, dem wird die empfangene Gnade klein und billig.

Wenn wir aber unseren Glauben und die Erlösung so verstehen, dass wir zwar zeitlebens Sünder sind und trotzdem gerecht gesprochen durch Christus, dann ändert dies alles. In einem so verstandenen Glauben ist es das Schlimmste, als Christ zu leben ohne sich bewusst zu sein, wie tief die Sünde immer noch wiegt, wie sehr wir Umkehr von unseren eigenen Wegen und Hinwendung zum Herrn als andauernde Übung notwendig haben.

Falls du bis hierhin durchgehalten und -gelesen hast, ist vielleicht dein bisheriges Glaubensverständnis erschüttert worden. Aber ich hoffe und bete, dass du etwas von diesem Skandal des Kreuzes (Gal 5,11) und der Gnade erfassen konntest.

AUGUST 2020/VON MARCEL BERNHARDSGRÜTTER